Performancekunst von Arca

Das Alien in sich selbst umarmen

Ein Star, der Welten bauen will: Arca ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Lichtspiel, Malerei und spektakulärer Selbstinszenierung. Eine Erkundung

Es beginnt andächtig, fast sakral. Rote Lichter pulsieren im Takt eines Herzschlages in der verdunkelten Rotunde der Bourse de Commerce in Paris. Dann ertönt eine androgyne Stimme, die langgezogene, choralartige Tonfolgen singt. Die Blicke irren umher, um die Quelle der Stimme zu finden, die von überall herzukommen scheint. Dann ist Arca da, mitten zwischen den Menschen, sie schreitet durch sie hindurch und singt immer weiter diese amorphen Klänge. Auf der erhöhten Bühne angekommen, wirft sie ihren soldatisch strengen Mantel ab, schleudert die langen, glatten Haare umher, biegt den schlanken Körper in dem knappen Tanga und reckt die nackten Brüste ins Scheinwerferlicht. 

Sie zieht den ganzen Raum in ihren Bann, improvisiert, hält die Spannung, regiert das Licht und den Beat mit ihrer Stimme. Der Bass-Herzschlag setzt aus, die Beats werden lauter, die Show nimmt Fahrt auf: am Laptop, am elektronisch manipulierten Klavier, am Mikrofon. Der sakrale Gesang wird von zerhackten elektronischen Sounds abgelöst. An den Wänden der Rotunde flimmern blaue und rote Linien, Visuals wie von einer wild gewordenen Herzfrequenz. Nach einer Stunde wirft Arca mit einer überraschend athletischen Bewegung die Blumen von der Bühne in die Menge, die haltlos applaudiert. Es ist Fashion Week in Paris, Kunstwelt und Modewelt treffen sich an diesem Abend in der Bourse de Commerc, und alle liegen dieser Cyber-Diva zu Füßen.

An einem der folgenden Abende wird Arca noch auflegen, flankiert von keiner Geringeren als Björk. Und wenn man fragt, wer diese schillernde Persönlichkeit eigentlich ist, ist Björk eine gute Spur. Arca, 1989 als Alejandro Ghersi in Caracas geboren, hat sich in den 2010er-Jahren mit experimenteller elektronischer Musik einen Namen gemacht und für Kanye West, FKA Twiggs und eben Björk produziert; deren Alben "Vulnicura" von 2015 und "Utopia" von 2017 tragen ihre futuristisch technoide Handschrift. Ihre Heimat ist der Dancefloor: Es sei der Ort, wo sie ihre Freiheit gefunden habe, hat sie einmal der "New York Times" gesagt. Mit 17 ist Arca nach New York gezogen und hat dort, in der queeren Subkultur, die vielen Farben in sich entdeckt, die sie vorher nicht gezeigt hatte.

Mensch-Maschine mit zuckendem Gesicht

Den Pop und die Kollaborationen hat Arca nicht aufgegeben – 2021 beispielsweise veröffentlichte sie einen Remix von einem Lady-Gaga-Song. Doch in ihren eigenen Projekten lässt Arca mittlerweile der Experimentierlust ihren Lauf. "Kick i" bis "Kick iiiii", 2020 erschienen, bestand gleich aus fünf Alben, die musikalisch zwischen dekonstruierten Clubbeats, Reggaeton und zärtlichen Balladen changierten. Der erste Song des ersten Albums gab die Richtung an: "Non Binary". Während Arca in einem Video wie "Anoche" von 2017 noch als androgyner Mann auftrat, präsentiert sie sich seit 2018 als nicht-binäre Transfrau. 

Transformation und Technologie pulsieren durch ihre Songs wie durch ihre Selbstinszenierungen. Gerade erst erschien ein verspätetes Video zu dem "Kick iii"-Song "Incendio", in dem Arca ihren halb nackten Körper verkabelt zeigt, als Mensch-Maschine mit zuckendem Gesicht und verfremdeter Stimme, als würden ständig elektrische Ströme durch sie hindurchjagen. Grenzen zwischen den Geschlechtern werden genauso überschritten wie die zwischen Technologie und Körper. Alles fließt, in Bewegung gehalten von Begehren, Zärtlichkeit und Verführung.

Für den "Kick"-Zyklus hat Arca gemeinsam mit dem Künstler Frederic Heyman spektakuläre Videos und Visuals entwickelt, in denen sie ihren transformierten Körper in einer durchfetischisierten Science-Fiction Welt an komplexe Maschinen anschließt. Ledergürtel halten ihre Glieder, Feuer schießt zwischen ihren Beinen hervor, wie ein Techno-Zentaur herrscht sie über Welten aus glühender Lava.

Sie will Welten bauen

Arca will nicht mehr einfach Musik machen, sie will Welten bauen – in seiner Megalomanie ist das inspiriert von Richard Wagners Ring, von Matthew Barneys Cremaster Circle. Es ist nur folgerichtig, dass sie zunehmend die Fühler in die Kunstwelt ausstreckt. Nur dort ist wirklich Platz für ihr allumfassendes Transgender-Gesamtkunstwerk. 2019 performte sie bereits unter dem Titel "Mutant Faith" mehrere Abende lang in der New Yorker Kunstinstitution The Shed, improvisierte, sang und mixte live. Mit Anne Imhof hat sie kollaboriert, zu Imhofs Ausstellung "Youth" 2022 im Stedelijk einen suggestiv dystopischen Soundtrack beigesteuert – die ultrahippe Balenciaga-Welt, in der Imhof und ihre Partnerin Eliza Douglas sich bewegen, ist die perfekte Bühne auch für Arca, die nebenbei schon für Bottega Veneta und Calvin Klein gemodelt hat. 

In der Pariser Bourse de Commerce in diesem Frühjahr performte sie nicht nur am zur magnetischen Resonanzmaschine umgebauten Klavier, sie zeigte auch erstmals ihre eigenen Gemälde: großformatige, abstrakte Leinwände, teilweise mit Buchstaben und Graffitis überzogen. Bruchstückhaft erkennt man auch Motive, die gesprühten, knallroten Linien auf dem goldenen Grund erinnern an rot geschminkte Lippen, aus anderen Bildern schälen sich eine Joker-Fratze oder Batman-Ohren mit Grinsemund heraus.

An Originalität kann Arcas Malerei mit ihrer Soundkunst nicht mithalten, aber trotzdem strahlt sie eine gewisse Kraft aus, wirkt ähnlich vielschichtig, expressiv und grenzenlos wie die Performances. "Es ist wichtig für mich, nicht ein Schnappschuss von einem meiner Backgrounds zu sein, sondern alle diese Dinge zu umfassen", sagt Arca. Sie will Differenzen zeigen und sich nicht dafür schämen, sie will das Alien in sich selbst umarmen. Und weiter auf verschiedenen Bühnen unterwegs sein. Gerade ist sie in Südamerika auf Tour und arbeitet an einem neuen Album. Aber die Kunst lässt sie nicht los. Wir werden noch von ihr hören.